LESEPROBE

Kapitel 1

Willkommen im Land der tausend Grautöne

Unsere Heimat, das ist nicht nur das singende, klingende Land der tausend Grautöne, der Wink-Elemente und des Nordhäuser Doppelkorns. Unsere Heimat, das sind auch die alten Häuserfassaden, die mit ihren Löchern, Rissen und Minikratern wie Mondlandschaften aussahen. Das Putzgebirge, das sich durch die Feuchtigkeit des Mauer-werkes emporgehoben hat, gab dem Ganzen einen 3D-Effekt.

Vielleicht entstand auch deswegen die Ansicht, wir würden hinter dem Mond leben. Genauer auf dessen Rückseite, von der aus wir nicht sehen konnten, was auf der Welt geschieht. Mag sein. Doch nur, weil wir auf der Rückseite lebten, heißt das noch lange nicht, dass wir zurückgeblieben sind. Wir sind einfach nur anders der selt-samen Erlebnisse wegen. Und von denen gab es bei uns im Land des Mangels jede Menge.

Wir mussten die Welt mit den Augen unserer ideologischen Weltanschauung betrachten, obwohl wir dieser Weltanschauung wegen, die Welt nicht mit eigenen Augen anschauen durften. Bei uns waren sogar die Widersprü-che vereint, deswegen war es nicht erlaubt, den Wider-sprüchen zu widersprechen.

Wir durften keine falschen Fragen stellen und mussten Antworten, die uns falsch erschienen, als richtig akzep-tieren.

So stellten sich die Sehenden blind und die Einäugigen sagten uns, wie die Dinge zu sehen sind. Immer und überall. Wir waren ständig umgeben von gut sichtbaren, in großen DRUCKBUCHSTABEN geschriebenen Wahrheits-parolen, denen wir kein Paroli bieten durften. Wir mussten sie sogar an besonderen Feiertagen fröhlich jubelnd auf Transparenten an Tribünen vorbeitragen. Das Ganze hieß bei uns Demokratie.

Da es gefährlich war, über diese Demokratie Witze zu machen, gab es bei uns einen fiktiven Radiosender aus Armenien. Er hieß „Radio Jerewan“ oder auch „Eriwan“. Das weiß keiner so genau und ist auch nicht wichtig, denn niemand hat niemals den Namen aufgeschrieben. Dies wäre zu gefährlich gewesen.

Radio Jerewan war bei uns sehr beliebt. Die Witze begannen mit Zuhörerfragen und die Antworten fast immer mit den Worten: „Im Prinzip ja, aber“ oder „Im Prinzip nein, aber…“

Frage an Radio Jerewan: „Ist es wahr, dass man Witze erzählen darf?"

Antwort: „Im Prinzip ja, aber es lebt sich in den eigenen vier Wänden angenehmer.“

Witzeerzählen war bei uns von Anfang an mit dem Risiko behaftet, verhaftet zu werden. Das hinderte uns dennoch nicht, welche zu erzählen. Erst Anfang der 70er Jahre, als unser Land von König Erich dirigiert wurde, entspannte es sich etwas. Zumindest beim Witzeverbreiten. Das letzte Gerichtsurteil dafür fiel 1972. Die Staatssicherheit regis-trierte dennoch weiterhin die Witze und die Witzerzähler in ihren Akten. Der BND nur die Witze. Davon gab es wirk-lich jede Menge bei uns, weil wir in einem aberwitzigen Land lebten; in einem Gebirgsland mit Engpässen und dem Tal der Ahnungslosen. Willkommen in unserer Heimat. Willkommen hinterm Mond. 

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